Region & Leute

Julie Fellmann : Leseprobe aus „Nacht der Einsamen“

Eine kalte Nebelnacht. Eine einsame Spaziergängerin. Ein Marterl, das an eine alte Schuld erinnert…

In der kleinen Gemeinde Birk vor den südlichen Toren Münchens hängt der Bürgermeister tot von seiner Wohnzimmerdecke. In der gleichen Nacht wird im Wald die Grundschuldirektorin des Ortes erdrosselt. In ihrer Manteltasche findet sich eine Streichholzschachtel mit der Aufschrift Luciferin. Der Münchner Kommissar Garcia und sein Team suchen fieberhaft nach der Verbindung zwischen den beiden Morden. Treibt ein psychisch gestörter Würger sein Unwesen oder gibt es einen tieferen Zusammenhang?

Autorin Julie Fellmann gewährt unseren Lesern einen Einblick in ihren fesselnden Oberbayern-Krimi, der tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele gewährt…

Garcia ignorierte das Schild am Waldeingang, das signalisierte, dass der Weg nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge frei war und fuhr ein ganzes Stück in den Wald hinein. Nach einer Kurve bremste er ziemlich abrupt seinen BMW vor einem Holzstapel, neben dem bereits ein Streifenwagen und ein Krankenwagen parkten.

„Ich fürchte, ab hier müssen wir zu Fuß weitergehen“, entschuldigte er sich bei Franzi. Direkt hinter dem Holzstapel führte eine Art Trampelpfad in den Wald hinein. Garcia stapfte über den gefrorenen Waldboden voran, Franzi folgte ihm, so gut ihre Wildlederstiefeletten es ihr erlaubten.

Trotz des tragischen Anlasses hatte der kleine Marsch für Garcia etwas Idyllisches. Es roch stark nach Erde und die Blätter des letzten Herbstes raschelten unter ihren Tritten. Das helle Frühlingslicht brach sich im kahlen Geäst der hohen, uralten Laubbäume. Ja, das war es, was die Wälder hier so besonders machte: Die hohen Bäume ließen den Eindruck entstehen, man wandle durch große geräumige Hallen, die gefilterten Sonnenstrahlen erzeugten eine Stimmung wie in einer Kathedrale. Eine erhabene Naturkathedrale.

Der Weg führte direkt zum Isar-Hochufer und folgte dann den natürlichen Windungen oberhalb des Steilhangs. Hin und wieder tat sich der Blick zur Isar weit unten auf. Der einst so unberechenbare Gebirgsfluss, der der Landeshauptstadt Jahrhunderte lang verheerende Überschwemmungen beschert hatte, mäanderte hier scheinbar noch selbstbestimmt in seinem weitläufigen Kiesbett, türmte hier Berge von Treibholz auf, ließ dort neue Kiesbänke entstehen, bildete wie von Malerhand gezeichnete Haupt- und Nebenarme.

„Wir sind schon zu weit, wir müssen zurück in den Wald“, rief Garcia und blickte sich nach Franzi um. Ihre kinnlangen Haare waren ihr ins Gesicht geweht, sie strich sie zurück. Der Hauch eines Lächelns, einen kurzen Moment lang, beschwor in Garcia ein altes Bild herauf. Ihm kam ein Plattencover in den Sinn, das er einst gehütet hatte wie einen Schatz. Bob Dylan mochte es gewesen sein, der mit Lammfellkragen und Cowboystiefeln in den Wäldern abgebildet war, an seine Seite gelehnt eine hübsche Frau. Eine Blondine wohl, Brigitte Bardot vielleicht, doch in Garcias Fantasie trug sie eindeutig die Gesichtszüge von Franzi und lächelte genau ihr Lächeln.

„Kann man den Tatort nicht über irgendeine Straße erreichen?“ unterbrach Franzi jäh seine Tagträumerei und holte ihn ganz schnell zurück auf den Boden der Tatsachen.

Er räusperte sich kurz und antwortete mit etwas rauer Stimme: „Keine Chance. Das Waldstück zwischen Rieden und Birk ist ziemlich weitläufig und es gibt nur den einen befahrbaren Forstweg, auf dem wir parken. Aber nach den Beschreibungen der Kollegen müssten wir gleich da sein.“

Tatsächlich wusste Garcia selber nicht genau, wo sie sich befanden und stolperte in der ungefähren Richtung über den unebenen Waldboden. Er verlangsamte seinen Schritt, damit Franzi aufholen konnte und blickte sich immer wieder nach ihr um.

„Vorsicht!“ Franzis Warnung kam zu spät.

Garcia rannte geradewegs in einen verwitterten Steinpfeiler, dessen Spitze ein seltsames Doppelkreuz zierte und der einsam aus dem Waldboden ragte. Fluchend rieb er sich das linke Schienbein.

„Wer hat dieses saublöde Marterl denn da hingepflanzt?“

Er wollte schon weiter humpeln, doch Franzi hielt ihn zurück.

„Schau mal, da ist eine Inschrift eingemeißelt. Kann man kaum mehr lesen.“

Gemeinsam entzifferten sie den Text: „Hier wurde durch ruchlose Hand gemeuchelt am 2. März 1854 Kaspar Holler.

„Gruselig.“ Franzi schauderte. „Das war vorgestern. Also, vorgestern vor über 150 Jahren. Was wohl passiert ist? Ruchlose Hand…“

„Wart mal, da steht noch was.“ Garcia kratzte mit seinen Fingernägeln das Moos vom Stein, dann las er den Rest der Inschrift vor: „…in Ausübung seiner Berufspflicht als Königlicher Forstwart in Birk. Der ist bestimmt von einem Wilderer umgelegt worden. Damals ging’s heftig zu in den bayerischen Wäldern.“

„Wohl nicht nur damals“, bemerkte Franzi. „Wo geht’s denn jetzt hier weiter?“

Garcia sah sich etwas ratlos um. In dem Moment hörten sie Hundebellen und folgten dem Geräusch, das sie tiefer in den Wald hinein führte.

Da sahen sie auch schon von Weitem das rot-weiße Absperrband, um das sich eine kleine Gruppe von Leuten geschart hatte. Garcia wies sich den beiden uniformierten Polizeibeamten gegenüber aus und begrüßte Sanitäter und Notarzt. Etwas abseits stand ein älteres Ehepaar mit einem angeleinten Schäferhund.

„Sie waren aber schnell da“, sagte der Polizist erstaunt. „Die Spurensicherung ist noch gar nicht eingetroffen. Der Staatsanwalt ist ebenfalls auf dem Weg hierher.“

„Wir waren zufälligerweise gerade in Birk, als Ihr Anruf kam“, erklärte Franzi, während sie und Garcia unter dem Absperrband hindurch schlüpften, das die Polizisten um fünf Bäume herum gezogen hatten, so dass das abgesperrte Areal eine Art Fünfeck bildete, in dessen Mitte zwei Gebüsche zu einem kleinen Dickicht zusammengewachsen waren. Zwischen diesen beiden Büschen ragten zwei Beine hervor, ganz gerade, als habe sich jemand zum Schlafen dorthin gelegt. Dieser Jemand trug eine schwarze Hose und klobige braune Winterstiefel.

„Als wir sie gefunden haben, lag sie mit dem Bauch zur Erde. Wir haben sie vorsichtig umgedreht, ansonsten haben wir nichts verändert“, informierte sie der Notarzt, während sie sich gemeinsam den Beinen näherten.

Die Leiche lag auf dem Rücken zwischen den beiden Büschen. Die Kommissare mussten ein wenig die Zweige beiseite biegen, die ihnen die Sicht versperrten. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelte, obwohl sie in einen unförmigen schwarzen Daunenmantel gehüllt war. Seltsamerweise war ihr die Mütze nicht vom Kopf gerutscht. Sie hatte sie wohl ursprünglich tief ins Gesicht gezogen. Auf ihrem Antlitz sah man leichte Abdrücke vom Boden zu erkennen, ein kleiner Zweig war auf der linken Wange festgefroren. Ihre weit geöffneten Augen starrten glasig zum Himmel, der Mund war ebenfalls weit geöffnet, als wolle sie schreien. Obwohl keine Spuren äußerlicher Gewaltanwendung zu sehen waren, obwohl sich nirgends auch nur ein Tropfen Blut befand, schauderte Garcia. Woran es lag, vermochte er nicht genau zu sagen. Vielleicht an diesem zum Himmel gerichteten Blick, fast als bete die Frau direkt zu Gott. Vielleicht auch einfach an der Tatsache, dass es sich um eine Frauenleiche im Wald handelte. Jedenfalls berührte der Anblick dieser Leiche ihn weit mehr als der des toten Konrad Hartmann in seinem Wohnzimmer zwei Tage zuvor.

Garcia warf einen Seitenblick auf Franzi, auch sie war blass geworden und die blaue Vene hob sich nun deutlich vom Rest ihres Gesichtes ab. Sie wandte sich ab und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin: „Wer tut so was?“

Garcia widerstand einmal mehr dem Impuls, Franzi beschützend den Arm um die Schulter zu legen. Stattdessen wandte er sich an den Notarzt.

„Haben Sie den Tod festgestellt?“

„Ja. Die ist zweifelsfrei tot, und zwar nicht erst seit heute. Ich tippe auf gestern, wenn nicht sogar vorgestern.“

„Können Sie uns schon etwas über die Todesursache sagen?“

Der Arzt schlug den Mantelkragen der Frauenleiche ein wenig zurück.

„Schauen Sie sich das an. Diese tiefe rote Rille am Hals. Sieht nach Erdrosselung aus, und zwar mit einem dünnen Draht oder etwas in der Art.“

Die blutrote schmale Rille, die sich quer über den Hals zog, sah fast aus, als trüge die Tote ein eng anliegendes Halsband. Garcia studierte aufmerksam die Gesichtszüge der Leiche. Es handelte sich um eine junge Frau, vermutlich nicht älter als Mitte dreißig. Unter der Mütze lugten ein paar dunkelblonde Strähnen hervor, ihr Gesicht war kalkweiß und völlig ungeschminkt und verriet trotz der weit aufgerissenen Augen und des starren Blicks etwas Natürliches, vielleicht sogar eine gewisse Zartheit, wenn auch keine offensichtliche Schönheit. Garcia fühlte ganz vorsichtig mit dem Handrücken ihre Wange: sie war eiskalt.

Einer der Polizeibeamten riss ihn aus seinen Betrachtungen: „Wir waren gerade auf Streife zwischen Birk und Wolfratshausen, als uns der Funkspruch erreicht hat. Diese Spaziergänger haben die Leiche gefunden. Besser gesagt, ihr Hund.“

Garcia blickte auf und schaute zu dem älteren Ehepaar, das dicht hinter dem Absperrband stand und das Geschehen neugierig verfolgte. Er nickte Franzi aufmunternd zu.

„Na komm, die brennen ja darauf, befragt zu werden.“

Gemeinsam steuerten sie auf das Ehepaar zu. Der Schäferhund bellte und riss an der Leine.

„Hannibal, Sitz!“, rief der Mann.

„Haben Sie die Leiche gefunden?“, fragte Garcia.

„Ach, ist die denn wirklich tot?“, fragte die Frau erschrocken. „Sowas liest man doch sonst nur in der Zeitung: Spaziergänger entdecken Frauenleiche in Waldstück. Sie wurde doch nicht etwa…? Die arme Frau Jacoby!“

Garcia horchte auf.

„Sie kannten die Frau?“

„Ja, sicher! Fast jeder hier im Ort kannte die. Das ist doch die Direktorin von unserer Grundschule. Unser Hannibal hat plötzlich verrückt gespielt. Wir dachten, er hat einen Fuchsbau oder so was entdeckt. Und dann haben wir hinter dem Gebüsch diese Frauenbeine gesehen. Mein Gott, das sah so unheimlich aus. Zum Glück hatte mein Mann sein Handy dabei. Ich selber hab ja so was nicht, ich komm mit diesen modernen Dingern nicht zurecht. Aber in so einem Fall ist es doch praktisch. Mein Mann hat gleich die Polizei gerufen… und als der Notarzt die dann umgedreht hat… da hab ich doch noch einen Blick auf sie gewagt und da hab ich sofort gesehen… also die Frau Jacoby kannte ich gut, unser Enkel ist bei ihr in der vierten Klasse und wir waren immer bei den Musikvorspielen in der Schule und natürlich auch beim Sommerfest und…“

„Wissen Sie zufällig, ob sie Familie hatte?“ unterbrach Franzi den Redestrom der Frau.

Diese schien stolz zu sein, sich bei den polizeilichen Ermittlungen nützlich machen zu können, ihre Stimme überschlug sich fast, während ihr Mann stumm den Schäferhund tätschelte.

„Die Frau Jacoby war alleinstehend, das weiß ich bestimmt. Also, ob die Verwandte hatte, weiß ich natürlich nicht. Aber sie hatte keinen Mann und keine Kinder. Ihre Familie, das war die Schule.“

„Sie hatte aber doch einen Bruder“, schaltete der Mann sich nun ein. Bevor er jedoch weiterreden konnte, übernahm seine Frau sofort wieder die Führung.

„Ja, natürlich, einen Bruder hat sie, warum ist mir das jetzt nicht selber eingefallen. Aber Sie können sich vorstellen, wie durcheinander ich bin. Die arme Frau Jacoby… also, das wird mir ja keiner glauben…“

„Können Sie uns etwas über ihren Bruder sagen?“, brachte Garcia sie auf das eigentliche Thema zurück.

„Äh, ihr Bruder, genau. Naja, da weiß ich nicht viel, die sind halt öfter zusammen hier im Wald spazieren gegangen. Wissen Sie, unser Hannibal braucht eine Menge Auslauf und wir sind oft hier unterwegs und da hab ich die beiden halt öfter gesehen. Zuerst hab ich gedacht, die wären ein Paar, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden war ganz eindeutig.“

„Danke, Frau…“

„Übelsag. So wie mir ist übel und ich sag nichts.“

Franzi und Garcia tauschten den Bruchteil einer Sekunde einen komplizenhaften Blick angesichts dieser übereifrigen Zeugin.

„Frau Übelsag, danke“, beeilte Franzi sich höflich zu sagen. „Wissen Sie sonst noch irgendwas über Frau Jacoby, was für uns vielleicht hilfreich wäre?“

Frau Übelsag überlegte. Ihr schien nichts einzufallen, obwohl man ihr anmerkte, dass sie liebend gerne zur sofortigen Lösung des Mordfalls beigetragen hätte. Garcia notierte sich die Personalien des Ehepaares und bat sie, im Ort möglichst über den Leichenfund Stillschweigen zu wahren. Aber er machte sich da keine große Hoffnung – nichts verbreitete sich schließlich schneller als schlechte Nachrichten.

„Zwei Leichen im gleichen Kaff innerhalb von zwei Tagen. Kann das Zufall sein?“, fragte Franzi, als sie außer Hörweite waren.

Über den Autor

Sandra Johnson

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