Das Filmfest München ist vorbei – und mei Dahoam Autor Sebastian Klug ist eine ganze Woche lang beharrlich von Kino zu Kino gepilgert. Dass er dabei echten Filmperlen begegnet, ist unausweichlich. Nach DIE LETZTE SAU stellt er uns heute die Tragikomödie CAPTAIN FANTASTIC mit Viggo Mortensen vor.
Der Gesellschaft mit all ihren Verpflichtungen den Rücken kehren und auf sich gestellt, autark und frei leben – diesem Traum jagen immer mehr Menschen hinterher. Auch in Filmen ist genau diese Sehnsucht Quell zahlreicher Geschichten, sei es in Thrillern wie Wer ist Hanna?, in Unterhaltsschnulzen wie Der große Trip oder in großen Dramen wie Into the Wild. Auch Matt Ross greift in seinem zweiten Film Captain Fantastic genau dieses Thema auf, nicht ohne es jedoch sorgfältig kritisch zu hinterfragen.
Ben Cash (VIGGO MORTENSEN) lebt mit seinen Kindern Bodewan (GEORGE MACKAY), Kielyr (SAMANTHA ISLER), Vespyr (ANNALISE BASSO), Rellian (NICHOLAS HAMILTON), Zaja (SHREE CROOKS) und Nai (CHARLIE SHOTWELL) in einem Waldgebiet im Nordwesten der USA. Gemeinsam mit seiner Frau Leslie (TRIN MILLER) hat er für sich und seine Familie ein Zuhause fernab der Zivilisation geschaffen, ein verstecktes Paradies, in dem er seine Kinder streng, aber vertrauens- und liebevoll großzieht und ausbildet – in Literatur, Geschichte, Mathematik und Physik, aber auch in der Jagd, Hauswirtschaft und im lethalen Zweikampf. Doch als Leslie, die aufgrund ihrer Depression bereits seit mehr als drei Monaten in einer Klinik ist, sich eines Abends das Leben nimmt, gerät die Idylle in Schieflage. Um den letzten Willen der überzeugten Buddhistin, sich einäschern und ihre Asche in einer öffentlichen Toillette runterspülen zu lassen, umzusetzen, machen sich Ben und seine Kinder auf den Weg zur Trauerfeier bei Leslies Familie – eine Reise, auf der Ben sich mehr und mehr fragen muss, ob der Weg, den er für sich und seine Familie gewählt hat, der richtige ist.
Ein Aspekt, der die besondere Anziehungskraft dieses Films erklärt, ist sicherlich die Sehnsucht nach Freiheit, die beim Zuschauer durch die unterschiedlichsten Mittel stimuliert wird – sei es durch das gemeinsame Kochen, Arbeiten und Musizieren von Ben und seinen Kindern oder die Bilder der Familie in ihrem alten, zu einer Mischung aus Wohnmobil und Studierzimmer umgebauten Reisebus. Ein weiterer Aspekt ist jedoch die Anlage der Charaktere, die sowohl von Viggo Mortensen (ja, genau, der Aragorn) als auch von den Darstellern seinen Kinder eindringlich und authentisch verkörpert werden und damit bereits auf dem Sundance Festival sowie in Cannes begeistert hatten. Die kräftezehrende Erziehung seiner Kinder, die Trauer um seine Frau und die Zweifel an dem, was um ihn herum geschieht, stellt Mortensen mit einer Intensität dar, die einem manchmal die Tränen in die Augen treibt. Er, der in seinem Naturrefugium immer auf alles eine Antwort hatte, steht in der „echten“ Welt plötzlich immer öfter hilflos da – etwa, wenn seine jagderfahrene Tochter kein grasendes Schaf erlegen möchte, weil es sich nicht richtig für sie anfühlt, und die Familie daraufhin einen Supermarkt ausräubern muss, um ihren Hunger zu stillen. Oder er, der er immer offen und ungeschönt mit seinen Kindern spricht, zusehen muss, wie sein Bruder seinen eigenen Kindern zu vermitteln versucht, ihre Tante sei „an ihrer Krankheit“ verstorben.
Eine echte Auseinandersetzung mit den Gegensätzen zwischen dem konventionellen und dem Aussteigerleben fehlt zwar in dem Tragikomödie, wäre jedoch vielleicht auch nicht wirklich möglich gewesen: Die Entscheidung darüber, was gut und was schlecht ist, was „richtig“ und was „falsch“, ist zu komplex, um sie in Gänze einer Filmfigur zu überlassen. Dafür liefert Captain Fantastic aber eine Grundlage dafür, sich selbst ein Bild der Alternativen zu machen. Dass er dabei manchmal etwas über das Ziel hinausschießt, etwa wenn der älteste Sohn Bodewan seiner Campingplatzbekanntschaft nach einem Kuss einen leicht holprigen Heiratsantrag macht („Du bist in mich eingedrungen und ich möchte jetzt in Dich eindringen“), aber das ist verschmerzbar.
Der Titel Captain Fantastic hat leider einen leichten Superheldentouch, weshalb er in der deutschen Fassung mit dem schrecklich deskriptiven Untertitel Einmal Wildnis und zurück verschlimmbessert wurde.
Fazit: Wer bei Little Miss Sunshine mitweinen musste, bei Into the Wild fassungslos im Kinosessel saß und vielleicht selbst manchmal mit dem Gedanken spielt, sein Leben zu ändern, wird mit Captain Fantastic sehr viel Freude haben. Wer will, dass alles gleich bleibt, und sich auch keine Gedanken über Alternativen machen möchte, sollte sich jedoch lieber Captain America anschauen.
Captain Fantastic läuft voraussichtlich ab dem 18. Oktober 2016 in den deutschen Kinos.