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Die Menschen ins Gespräch bringen! | Interview mit Heribert Prantl

Heribert Prantl arbeitete sechs Jahre als Staatsanwalt und Richter in Regensburg und Kelheim, bevor er in den Journalismus wechselte, über zwei Jahrzehnte das Innenpolitik- und das Meinungs-Ressort der „Süddeutschen Zeitung“ leitete und als Mitglied der Chefredaktion tätig war. Seitdem schreibt er als freier Autor und Kolumnist. Er lebt in München und Berlin. Im Interview spricht er über sein im Frühjahr erschienenes Buch „Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne“

Was genau sind eigentlich unsere Grundrechte und warum ist der Schutz dieser so wichtig?

In den Grundrechten zeigen sich die Achtung und der Respekt des Staats vor jedem einzelnen Menschen, unabhängig, wer und was er ist. Sie sind das Fundament des Zusammenlebens. Die Grundrechte gehören zum Besten, was den Deutschen in ihrer langen Geschichte passiert ist. Sie stehen ganz vorne im Grundgesetz und beginnen mit dem Schutz der Menschenwürde, es folgt der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Die Gleichheit aller Menschen gehört dazu, die Meinungs-, Presse-, Glaubens-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Freiheit der Berufswahl, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Eigentumsrecht. Grundrechte heißen sie, weil sie grundsätzlich immer gelten sollen, auch und gerade in Not- und Katastrophenzeiten. Sie können in bestimmten Situationen eingeschränkt werden; nur beim Schutz der Menschenwürde geht das nicht. Auch bei den Einschränkungen darf niemals der Kern der Grundrechte angetastet werden.

Stehen die Corona-Verordnungen auf dem „Boden des Grundgesetzes“?

Einige der vielen einschneidenden Maßnahmen, die dort geregelt sind, stehen schon sehr weit am Rand des Grundgesetzes; manche dieser Maßnahmen sind auch bodenlos – weil sie nicht geeignet, nicht erforderlich oder nicht angemessen sind; oder schon deswegen, weil sie eigentlich nicht bloß in einer Verordnung der Verwaltung, sondern in einem Gesetz des Parlaments hätten geregelt werden müssen. Eine Maßnahme ist nicht schon dann gut, wenn einfach behauptet wird, dass sie das Leben schützt; auch dann müssen nicht alle anderen Grundrechte beiseitespringen. Grundrechte erfüllen nämlich existenzielle Grundbedürfnisse. Wenn die Grundrechte nicht geachtet werden, gehen die Menschen ein – nicht unbedingt kurzfristig, aber auf längere Sicht: Sie verlieren ihre wirtschaftliche Existenz, werden arbeitslos, depressiv, verschuldet, herzkrank, gewalttätig, suizidal, sterben in früheren Jahren. Der Schutz des Lebens und der Schutz der übrigen Grundrechte sind daher nicht zwei, sondern ein paar Schuhe. Im Übrigen: Es wäre schön, wenn man den Krankheiten und den Viren völlig entkommen könnte. Aber das ist eine Illusion. Es geht hier darum, sie ins Leben zu integrieren – ins persönliche Leben und ins gesellschaftliche Leben.

Ist ein Gesetz, das bei Überschreiten einer Corona-Inzidenz von 100 positiv getesteten Personen (pro 100.000 Einwohner) automatisch in Kraft tritt, rechtens?

Dieses Bundesnotbremsen-Gesetz ist in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. Es stellt einen Eingriff in unser Rechtssystem dar, der schwer verdaulich ist. Die Kontaktverbote, die Ausgangssperren, die Betriebs-, Geschäfts- und Schulschließungen: All diese Eingriffe in den grundrechtlichen Alltag der Menschen treten automatisch in Kraft, sobald ein bestimmter Inzidenzwert gegeben ist. Sie treten in Kraft ohne jeden weiteren Vollzugsschritt, ohne jede weitere Anordnung, ohne jeden weiteren Verwaltungsakt. Es bedarf dazu nur der Feststellung eines bestimmten Inzidenzwerts durch das Robert-Koch-Institut. Diese Feststellung löst wie auf Knopfdruck die Anti-Corona-Maßnahmen aus. Jede und jeder muss sich also ständig über den aktuellen Stand dieser Inzidenzwerte in ihrer bzw. seiner Region informieren, um festzustellen, welche Regelungen gerade gelten und welche schon wieder nicht – weil ja die Werte womöglich schon wieder gefallen sind. Das besonders Bedenkliche: Dieses Gesetz bremst den Rechtsschutz aus. Man kann gegen die durch den „RKI-Knopfdruck“ ausgelösten Maßnahmen nicht klagen, jedenfalls nicht vor den zuständigen Gerichten, den Verwaltungsgerichten.

Es sei eine „moderne Interpretation der Grundrechte“, so der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, nur geimpften Personen die Grundrechte zurückzugeben. Ist das „modern“?

Nein. Grundrechte sind keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss. Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie sind einfach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch nehmen. Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie dem Menschen als Mensch und/oder als Staatsbürger zustehen. Das ist ja das ganz Besondere, das ist das Wunderbare an den Grundrechten: Sie gelten unabhängig vom Alter, unabhängig vom Einkommen, unabhängig von Rang und Hautfarbe, unabhängig von Glauben und Weltanschauung. Grundrechte zurückgeben? Das klingt nach Gefälligkeit. Es ist aber keine Gefälligkeit, es ist Pflicht. Es ist der Sinn aller Anti-Corona-Maßnahmen, diese Maßnahmen wieder überflüssig zu machen. Wir müssen so schnell wie möglich den grundrechtlichen Normalzustand wieder herstellen. Das Selbstverständliche, die Geltung der Grundrechte, muss wieder selbstverständlich sein. Ich verstehe, dass viele jetzt zermürbt sind. Aber es kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein, Grundrechte nur gegen Vorlage eines Impfausweises in Anspruch nehmen zu können.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien in der Corona-Krise? Wird das Thema aufgebauscht gemäß der Regel „nur schlechte Nachrichten sind gute beziehungsweise verkaufbare Nachrichten?“

Oft wird gesagt, die Medien seien zu regierungsnah. Das halte ich für falsch. Aber es lässt sich ein Hang zum Katastrophalisieren beobachten. Der große Publizist Sebastian Haffner hat schon vor Jahrzehnten davon gesprochen, es gebe in den Medien eine Lust am Schwarzmalen, am „Gräueln“, also am Schwelgen in den Furchtbarkeiten der Zeit. Dieses schwarze Schwelgen erlebe ich in Corona-Zeiten besonders stark. Warum ist das so? Covid-19 ist die erste globale Krise der digitalen Neuzeit. In der neuen Digitalität, in der Welt des Internets, funktioniert der virologisch-publizistisch-politische Verstärkerkreislauf besonders gut. Die Faszination der hohen Click-Zahlen hat viele Medien mitgerissen. Doch man kann nicht ein Jahr lang und noch länger andauernd die Sirene heulen lassen. Das ist ein Ping-Pong der Schwarzmalerei. Bisweilen wurde die Zukunftslosigkeit so finster beschrieben, dass die Zukunft davongelaufen ist. Als Frühwarnsystem haben die Medien in der Corona-Krise ihre Verdienste. Wenn sie zum Dauerwarnsystem werden, wird es heikel. Menschen brauchen auch Hoffnung. Hoffnung ist der Wille zur Zukunft.

Warum spricht man auf einmal von Leitmedien? Bedeutet Pressefreiheit nicht auch Meinungsvielfalt?

Die großen, einflussreichen Medien werden seit jeher als Leitmedien bezeichnet, weil sie die Stimmung prägen. Man war es aber bisher nicht gewohnt, dass die Leitmedien sich so ähnlich sind, dass es – zumal im Fernsehen – einen medialen Tunnelblick gibt, ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario. Es ist neu, dass gesellschaftlich relevante Themen jenseits von Covid-19 fast komplett ausgeblendet werden. Es war auch ungewöhnlich, dass Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen viele Monate lang kaum zum Zuge kam, dass Kritikerinnen und Kritiker wegen ihrer bloßen Kritik an den Maßnahmen als Corona-Leugner und Covid-Idioten galten.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Die Presse ist nicht dafür da, den Menschen den Mund zuzubinden. Sie ist dafür da, die Menschen ins Gespräch zu bringen, ihre Freiheit zu ermöglichen und zu verteidigen.“ Sind die Medien zu parteiisch in Bezug auf die Corona-Maßnahmen?

Sie waren bisweilen zu eng, sie haben auch das wissenschaftliche Spektrum nicht immer in seiner Bandbreite abgebildet. Die Medizin, die Virologie und die Epidemiologie sind ja kein monolithischer Blick. Und die getroffenen Maßnahmen waren und sind nicht alternativlos. Das Suchen und Finden der richtigen Antworten darf nicht autoritär sein, nicht in der Politik und nicht in den Medien; es muss mit dem Wissen geschehen, dass es fast immer eine Vielfalt von Stimmen gibt. Das Hören, Verstehen und Aushandeln ist mühsam, aber wichtig.

Leitmedien und Politiker pauschalisieren Kritiker der Corona-Maßnahmen oft als Virusleugner und unterteilen die Bürger unseres Landes in Vernünftige und Unvernünftige. Ist solch eine Vorverurteilung nicht gefährlich und führt zwangsläufig zu einer Spaltung der Gesellschaft? Wird zu wenig über soziale, ökonomische und andere Folgen berichtet?

Sie legen den Finger in die Wunden. Man darf Kritik nicht einfach beschimpfen. Ich hätte mir gewünscht, dass mit den außerparlamentarischen Protesten gegen die Corona-Maßnahmen differenzierter umgegangen worden wäre. Die Demonstrationsfreiheit etwa gehört zur Kernsubstanz der Demokratie, auch in Corona-Zeiten. In einer Demokratie darf man unzufrieden, unbequem und auch aufsässig sein, man darf das sagen und zeigen – solange man sich dabei nicht strafbar macht. Das ist keine Verirrung der Demokratie, das ist Demokratie.

Sie beobachten, dass ansonsten kritische Bürger bereits abwehrend reagieren, wenn einer zu fragen wagt, ob die verordneten Verbote denn angemessen seien. In diesem Wandel sehen Sie eine große Gefahr. Welche?

Es droht eine Spaltung der Gesellschaft. Die Gräben zwischen Befürwortern, Kritikern und Verweigerern von Anti-Corona-Maßnahmen sind tief. Sie ziehen sich durch Familien und Freundschaften. Jeder nimmt für sich in Anspruch, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben. Das führt zu Unversöhnlichkeit. Man wird wieder zu einem zuhörenden und diskutierenden Miteinander kommen müssen.

Stallpflicht für Bio-Hühner wegen vereinzelter Wildvögel mit Vogelgrippe; Schulschließungen, obwohl Kinder am Corona-Infektionsgeschehen wenig teilhaben … Reagieren wir zu nervös? Regeln wir zu viel?

Der Staat der modernen Sicherheitsgesellschaft ist in der Tat nervös. Er ist in ständiger Alarmbereitschaft. Er lebt in der ständigen Angst, den kritischen Zeitpunkt rechtzeitigen Handelns zu verpassen. Er handelt deshalb auch schon in noch relativ normalen Zeiten so, als befinde er sich im Ausnahmezustand. Regeln wir zu viel? Ja. In Corona-Zeiten erleben wir, dass es Grenzen des rechtlich Regelbaren gibt. Man muss den Menschen auch Eigenverantwortung zutrauen.

Sind wir auf dem Weg in einen Obrigkeitsstaat mit manchmal schon diktatorischen Zügen? Liegt es daran, dass wir Corona-Maßnahmen Chinas kopieren?

Dass es eine neue Lust nicht nur auf Autorität, sondern auf Autoritäres gibt, ist leider richtig. Aber man soll die Klage über den neuen Vater Staat auch nicht übertreiben. Deutschland ist, trotz allem, was zu kritisieren ist, nicht China. Auf Demos und in Diskussionen werden bisweilen schiefe Vergleiche gezogen. Da sehen manche die Diktatur schon um die Ecke biegen. Das tut sie nicht. Der Eifer und das Gefühl, gegen einen mächtigen Mainstream zu stehen, führen bisweilen zu solch geschichtsblinder Übertreibung. Das ist nicht gut und schadet dem Protest. Aber es kann trotzdem gefährlich werden, diesen Protest nur zu verachten: Wer dauernd Idiot genannt wird, fängt womöglich an, einer zu werden – stur und trotzig, irrational und unsozial. Demonstranten pauschal zu Idioten zu erklären, ist darum idiotisch.

Sie haben andernorts gesagt, dass die gesellschaftliche Mitte aufstehen und für ihre Rechte eintreten soll. Was kann jeder Einzelne Ihrer Meinung nach tun?

Selbstbewusst sein. Sich nicht einschüchtern lassen. Für die Grundrechte eintreten. Sich selbst und den Mitmenschen klarmachen: Gesundheitsschutz ist wichtig, Panik ist gefährlich. Erich Kästner hat gesagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ Man kann diesen Satz für eine Kalenderspruch-Weisheit halten. Aber das ist falsch. Der Satz ist eine Aufforderung an jeden Einzelnen, die Grundrechte zu verteidigen. Es sind dies die Grundregeln unseres Zusammenlebens.

Und zu guter Letzt: Was wünschen Sie sich und der Menschheit für die Zeit nach Corona?

Corana war, Corona ist eine Krankheit, die das Atmen schwer macht. Die Gesellschaft hat das Gefühl, manchmal keine Luft mehr zu kriegen unter der Glocke von Gewalt, Angst und Corona. Ich wünsche uns, dass wir wieder aufatmen können. Die Gesellschaft braucht in und nach der Pandemie mehr als Gesundheit. Sie braucht Heilung.

Das Interview führte Sandra Johnson, Diplom-Sozialpädagogin und „mei Dahoam“-Chefredakteurin, zusammen mit Dr. Heike Hoffmann, Historikerin und Autorin.

Über den Autor

Sandra Johnson

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