Vom Schlafzimmerfenster aus hat Josef Hornsteiner einen direkten Blick auf seinen Arbeitsplatz in den nächsten Monaten. Der Mittenwalder Schafhirte schaut hinauf zu den verschneiten Steilwänden des Karwendels und zeigt auf den Wörnersattel in knapp 2000 Metern Höhe. „Im Frühjahr freue ich mich jedes Mal, wenn ich endlich mit den Schafen hinaufgehen kann“, erzählt der 53-Jährige, der in diesem Jahr zum 21. Mal die Tiere zu ihrer Sommerfrische ins Hochgebirge begleiten wird.
Im Winter arbeitet der Mittenwalder als Gemeindearbeiter. Doch für die kommenden Monate tauscht er seine leuchtend orangefarbene Arbeitsjacke gegen einen dunklen Wetterfleck aus Loden und zieht die gut eingelaufenen Bergschuhe an, die schon auf seiner Terrasse zum Lüften stehen.
Anfang Mai, wenn der Schnee noch in den Bergflanken liegt, vertrauen die Schafbesitzer aus Mittenwald ihre 450 Werdenfelser Bergschafe dem erfahrenen Gemeindehirten an. Auch zehn „Gemeindeböcke“ begleiten die Herde. Die ausgewählten Zuchtböcke werden von der Kommune gestellt und sorgen für Nachwuchs, der im Herbst auf die Welt kommen wird. In den ersten Wochen zieht Josef Hornsteiner mit den Tieren zu den niedrig gelegenen Weidegründen im Kranzberggebiet und an den Lautersee. „Abends bringe ich die Tiere dann zurück in den großen Pferch“, erklärt der Hirte den Ablauf. Erst wenn Mitte Juni die meisten Schneefelder im Hochgebirge weggeschmolzen sind, führt er die Tiere zu höher gelegenen Weidegründen bis in 2200 Metern Höhe. „Die älteren Damen in der Herde werden ganz nervös, wenn es in die Berge geht. Sie kennen die saftigsten Weideflecken und wollen nur noch hinauf“, erzählt Hornsteiner. Oben angekommen, verteilen sich die Schafe im weitläufigen Gebiet. Bis Mitte September genießen die Tiere ihre Freiheit, dann werden sie wieder zusammengetrieben und von dem Hirten hinunter ins Tal geführt, wo sie ihre Lämmer zur Welt bringen und erneut geschoren werden.
Obwohl es robuste Wolle liefert und gutes Fleisch, ist das Werdenfelser Bergschaf rar geworden, denn für die Industrie sind die Tiere nicht optimal: Ihre Wolle ist manchmal braun und daher nicht gut zu färben und auch nicht so weich und fein wie die Wolle des Merinoschafs. Und was das Fleisch angeht, so setzen die Tiere, die das halbe Jahr in den Bergen verbringen, nicht so viel Masse an wie eigens gezüchtete Fleischrassen.
Heute ist das widerstandsfähige Bergschaf eine vom Aussterben bedrohte Nutztierrasse. Schätzungen zufolge gibt es noch 1600 Tiere; die meisten davon leben im Werdenfelser Land zwischen Mittenwald und Farchant. Hervorgegangen ist die Züchtung vor hundert Jahren aus einer Kreuzung von Steinschaf, Zockelschaf und Bergamaskerschaf. Heute sind die Tiere zu „Hobbyschafen“ geworden, die sich die Mittenwalder als Kulturgut auf vier Hufen leisten.
Tradition modern vermarktet
Die Schafe sind aber nicht nur Zeichen für gelebtes Brauchtum. Sie liefern auch Wolle, aus der sich bemerkenswerte Produkte herstellen lassen. Claudia Brandner verkauft in ihrem „Werdenfelser Schafwoll-Laden“ in der Mittenwalder Innenstadt an Einheimische und Touristen alles, was sich aus Schafwolle herstellen lässt, und vermarktet ihre Produkte auch über ihren Online-Shop im Internet. In ihrem Sortiment hat sie robuste Strickwolle in vielen bunten Farben, Babyschlafsäcke, medizinisch gegerbte Lammfelle, warme Wollsteppdecken, weiche Kopfkissen gefüllt mit Schafwollkügelchen, dicke Fellpantoffeln, kuschelige Decken fürs Wohnzimmersofa und feste Janker für jede Jahreszeit. Die Mittenwalderin schwärmt von den besonderen Eigenschaften der Schafwollprodukte. „Die Schafwolle wirkt wärmeregulierend. Die Sachen sind warm, nehmen Feuchtigkeit und Körpergeruch auf und führen durch eine gute Zirkulation überschüssige Wärme ab“, erklärt Claudia Brandner. „Deshalb schwitzt man unter Schafwolldecken nicht.“
Auch ihr Mann weiß die Vorzüge von Schafwollprodukten zu schätzen. Franz Brandner arbeitet im Forst. Der schlanke, drahtige Mann trägt bei der Arbeit meist eine dicke, dunkelbraune Lodenhose. Auf die Frage, wie lange so eine Hose hält und wie man sie wäscht, lächeln die Brandners verschmitzt. „Diese Hose ist 25 Jahre alt und wurde noch nie gewaschen“, erklärt Franz Brandner ein bisschen stolz. Doch seine Frau widerspricht sofort: „Das stimmt nicht. Einmal habe ich sie schon gewaschen, aber das muss eigentlich nicht sein. Wenn es feucht ist, hängt man sie einfach an die frische Luft und schüttelt sie aus. Dann ist sie wieder sauber und frisch.“ Franz Brandner schwört auf seine Arbeitshose. Einen Nachteil hat sie aber: „Empfindlich darf man nicht sein, weil sie a bisserl kratzt.“ Dafür ist die Hose selbst völlig unempfindlich. Nach 25 Jahren Arbeitseinsatz sieht das gute Stück kein bisschen abgetragen oder abgewetzt aus.
Das Geheimnis der Superhose: Schafwolle ist nicht nur unglaublich widerstandsfähig und wasserabweisend, sondern auch selbstreinigend. Eine Kombination von Eigenschaften, die bislang künstlich hergestellte Materialien nicht aufweisen können. Deshalb sind Schafwolljanker und Lodenhosen so pflegeleicht: Der Schmutz perlt durch den natürlichen Fettgehalt der Wolle einfach ab. Auch Schafhirte Josef Hornsteiner würde sein Lodencape nicht gegen einen Regenmantel aus High-Tech-Material eintauschen: „Mein Wetterfleck aus Loden hält bei jedem Wetter warm und trocken.“
Das Wollfett, auch Lanolin genannt, ist das Besondere an der „Wunderwolle“, die sogar heilende Wirkung hat. Bekannt ist die entzündungshemmende Wirkung der fetten Schafwolle schon seit Jahrhunderten. Hebammen setzen auch heute noch Heilwolle ein, wenn Babys unter einem roten Windelpopo leiden oder Mütter Schmerzen beim Stillen haben. Auch bei Gelenkentzündungen können Wollwickel helfen, denn das in der Wolle enthaltene Lanolin und die Wärme des Wickels wirken schmerzlindernd. Claudia Brandner weiß das aus eigener Erfahrung. Sie leidet unter Arthrose im Knie: „Wenn ich Schmerzen habe, lege ich mir über Nacht einen Heilwickel an, und am nächsten Morgen geht es mir besser.“
Ein Schafjahr beginnt im Februar
Bevor die Wolle bei Claudia Brandner im Laden als Wolldecke oder Janker liegt, muss sie erst gewonnen und verarbeitet werden. Die meisten Mittenwalder Schafbesitzer scheren ihre Tiere im Frühjahr und Herbst selbst und heben die Wolle bis Kirchweih auf. Jedes Jahr Ende Oktober kommt der Wollgroßhändler aus Belgien mit dem Lastzug und holt die Wolle ab. Alle Schafvereine in der Region bringen dann die Wolle zur Sammelstelle nach Farchant. Dort wird sie gewogen und in große Säcke verpackt. 50 bis 80 Cent bekommt man pro Kilo für weiße Wolle – für braune Wolle zahlt der Großhändler nur die Hälfte. Nach dem Sammeltag ist der Lastzug voll gepackt mit weichen Wollsäcken. Dann geht es nach Belgien, wo die Wolle mit Soda gewaschen und auch „kartiert“ wird, wie das Kämmen der Wollfasern im Fachjargon heißt. „Danach kaufe ich so viel Wolle zurück, wie ich für meine Produkte brauche, und gebe sie weiter zur Verarbeitung“, erklärt Claudia Brandner den Produktionsablauf. Verarbeitet wird die Wolle dann zu Unterbetten, Lodenjankern oder Wolldecken in kleinen Manufakturen in Bayern und Österreich. „Mir ist wichtig, dass die Produkte aus der Region kommen“, erklärt die Mittenwalder Kauffrau. Dass die Wolle bis nach Belgien und wieder zurück gefahren werden muss, liegt an der Infrastruktur: „Bei uns gibt es keine Firmen mehr, die Wolle in der Qualität reinigen können.“
Den Abschluss der Schafsaison bildet jedes Jahr Ende Oktober der „Schofererball“ an Kirchweih. Alle Mittenwalder und ihre Angehörigen, ob Schafzüchter, Treiber oder Hirte, die das Jahr über mit den Schafen zu tun hatten, treffen sich und feiern, dass die Tiere wohlbehalten zurück ins Tal gekommen sind. Vor einigen Jahren hatte Franz Brandner besonderes Glück beim Ball: Beim alljährlichen „Paschen“, einem Spiel mit Würfelbecher, gewann er den Hauptpreis – einen gehörnten Bock. „Am Abend sind wir dann zu dritt nach Hause gegangen: Meine Frau, ich und der Schafbock.“