Viele Jahrhunderte lang gehörten Mühlen ganz selbstverständlich zum ländlichen Leben. Schon in der Bibel wird der Mühlstein erwähnt. Jedes Kloster, jeder Weiler, jedes Dorf besaß mindestens eine Mühle. Heute kennen wir das alte Handwerk meist nur noch aus Märchen oder Volksliedern.
Goldgelb leuchten die Weizenkörner in Martin Sonners Hand. Der Müller der Sindelsdorfer Off-Mühle schnuppert daran, lässt die Körner durch die Finger gleiten und testet die Qualität des Getreides, das soeben vom benachbarten Biobauern Schlögel angeliefert wurde. Jedes Getreidekorn besteht aus einem stärkereichen Mehlkörper, den mineralstoff- und vitaminreichen Randschichten, der Schale und dem Keimling. Der Müller kann die hohe Qualität der Ware bereits auf den ersten Blick einschätzen. Martin Sonner nickt zufrieden. Gerade rechtzeitig wurde er mit den Futtermischungen für die Landwirtschaft fertig, jetzt kann er sich dem Bioweizen widmen.
„Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ – als Veronika Sonner, geborene Off, in der Grundschule dieses Lied sang, war sie das einzige Kind in ihrer Klasse, das wusste, dass es die Walzen und die Siebmaschinen sind, die in einer Mühle klappern. Und dass der Bach unterhalb ihres Elternhauses die Turbine für die Getreidemühle antrieb.
Veronika wuchs in einer historischen Mühle in Sindelsdorf auf. Der Maler Franz Marc, Mitbegründer der Künstlervereinigung „Blauer Reiter“, der vor mehr als einem Jahrhundert einige Jahre in Sindelsdorf verbrachte, hat die Off-Mühle sogar in einem Gemälde verewigt. Das Bild von 1913 mit dem Titel „Die verzauberte Mühle“ ist im Chicago Art Institute zu sehen. Ein Mühlrad, wie es Franz Marcs farbenfrohes Werk zeigt, gibt es heute nur noch im Mühlenladen als Dekoration. Die Turbine, die das Rad ersetzt, wird aber immer noch – wie seit Hunderten von Jahren – mit dem Wasser aus dem Sindelsbach angetrieben.
Das Aus für traditionelle Mühlen
„Eine glückliche Kindheit“, sinniert Veronika Sonner, als sie sich erinnert, wie sie bei der Anlieferung von Futtergetreide mit Wonne in Getreidekörner sprang: „Wie ein Kopfsprung ins Wasser!“ Sie liebte es, in den Ferien auf dem Lastwagen mitfahren zu dürfen, wenn das Mehl an die Bäckereien und die Futtermischungen an die Bauern geliefert wurden. Dass damals das große Mühlensterben in vollem Gange war, realisierte sie als Kind nicht. 90 Prozent aller Mühlen stellten in den 1960er- und 70er-Jahren ihren Betrieb ein. 30.000 Müller gab es 1945 noch in Deutschland, heute sind es 230. Nur noch große Betriebe könnten rentabel wirtschaften, war das Credo der Zeit. Mit der Modernisierung schlug den meisten traditionellen Mühlen das letzte Stündlein. Gegen Dampfmaschinen und Elektromotoren hatten sie keine Chance. Großmühlen und ein gnadenloser Preisdruck zwangen die meisten Müller zum Aufgeben. Acht Betriebe waren es einmal entlang des Sindelsbachs auf einer Länge von zehn Kilometern. Heute ist nur noch die Off-Mühle übrig, aus der Veronika Sonner stammt.
Bier, Brot, Brezen und Biskuittorte
Dabei ist kaum ein Lebensmittel so sehr mit einer Landschaft und einem Land verbunden wie Getreide. Abgesehen von den Polarkreisen und den Südseeinseln ist es fast überall Grundnahrungsmittel Nummer eins und Kulturbotschafter. Für seine Bedeutung finden sich viele Belege in unserer Sprache; sie reichen vom Vaterunser mit der Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ bis zu Redewendungen wie „in Lohn und Brot stehen“ oder „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing“. In vielen Kulturen hat Getreide immer noch eine symbolische und spirituelle Bedeutung. Es gilt als ein Symbol für die Lebenskraft. Bei der Aussaat werden Bittgebete gesprochen, und in vorchristlicher Zeit versuchte man das Getreidewachstum durch Singen, Tanzen und Rituale zu beeinflussen. Auch in geografischer Hinsicht ist Getreide identitätsstiftend. Mit Amerika verbinden wir den Mais, mit Asien Reis, mit Afrika Hirse. Hierzulande spiegeln Felder voller Weizen, Gerste, Roggen und Dinkel wider, was bei uns auf der Speisekarte steht. So werden die Getreideprodukte Bier, Brot, Brezen und Biskuittorte anderswo als typisch deutsch wahrgenommen.
Damit aus dem Weizen von Biobauer Schlögel in der Off-Mühle Mehl und später Brot oder Biskuittorte werden kann, durchläuft er eine Vielzahl von Stationen. Hat Müller Martin Sonner ihn durch seine Hände rieselnd für gut befunden, Geruch, Aussehen und Unkrautbesatz getestet, misst er den Feuchtigkeitsgehalt. Dann wird gewogen, gesiebt, entstaubt, grob gereinigt und im Getreidesilo aufbewahrt, bis eine eingeschickte Laboranalyse am nächsten Tag per Fax grünes Licht gibt. Um beim Mahlen die spröde Kleie besser vom Getreideinneren, dem Mehlkern, trennen zu können, wendet Martin Sonner wie jeder Müller einen Kunstgriff an: Wasser wird auf die Weizenkörner gesprüht und exakt dosiert, damit die äußere Schale elastisch wird.
Eine umwälzende Erfindung
Mühlsteine wie in der Bibel gibt es schon seit über hundert Jahren nicht mehr. Denn die Steine erhitzen das Mahlgut und zerstören dadurch wertvolle Enzyme und Eiweißstoffe. Der Mahlvorgang geschieht heutzutage über Stahlwalzen, im sogenannten Walzenstuhl. Eine im wahren Wortsinn umwälzende Erfindung, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Seither besteht das Mahlen aus zwei Verarbeitungsgängen: wiederholtes Zerkleinern und Sieben. Beim Mahlen wird der Mehlkern schonend von den Schalenteilen gelöst und auf den Plansichter geleitet, einen schrankgroßen, freischwingenden Kasten, in dem das Mehl von der Kleie getrennt wird, so wie ein Kind im Sandkasten mit dem Handsieb feinen und groben Sand trennt, nur in wesentlich größeren Dimensionen. Denn im Plansichter befinden sich 84 Siebe unterschiedlicher Maschengröße. Nach jedem Mahlvorgang wird das Mahlgut mithilfe von Luft in einem Gewirr aus Rohren über zwei Stockwerke hochgesaugt und weitergeleitet. Die groben Teilchen werden wieder auf den Walzenstuhl geleitet. Was durch das Sieb fällt, ist Mehl, was nicht durchfällt, läuft zum nächsten Walzenstuhl und wird wieder gemahlen und gesiebt. Der Bioweizen von Bauer Schlögel läuft bis zu 14-mal vom Keller bis unters Dach der Mühle und wieder zurück, bevor das Mehl ganz von der Schale gelöst ist und schließlich in Säcke gefüllt werden kann.
Gentechnikfreier Betrieb
Martin Sonner klopft mit einem Gummihammer die Rohre und Steigstränge ab, in denen das Mehl in die Tiefe rutscht oder das Mahlgut nach oben gesaugt wird. Dadurch fallen die Mehlreste nach unten, und die Rohre sind wieder frei – eine der vielen Reinigungstätigkeiten, die in einer Mühle ständig anfallen, denn Mehlstaub birgt große Explosionsgefahr. Früher brannten deshalb immer wieder Mühlen ab. Selbst heute würde es bei einer großen Mehlstaubwolke bereits genügen, das Licht einzuschalten, damit es zu einer Explosion kommt.
Die permanente Reinigung ist auch deswegen so wichtig, weil all das Getreide Schädlinge anlockt. Für Mäuse, Mehlmotten, Mehlkäfer und andere Parasiten ist eine Mühle ein Paradies. Vor neun Jahren entschloss sich Ehepaar Sonner trotzdem, ganz auf Chemie zu verzichten. Denn wenn man Bio-Mehle mahlen will, passt Gift nicht ins Konzept. Und seither bekämpft man die Insekten in der Off-Mühle mit natürlichen Fressfeinden. „2000 Euro gebe ich jedes Jahr für diese Nützlinge aus“, sagt Martin Sonner, der findet, jeder Cent sei hier gut angelegt. Um im Wettbewerb bestehen zu können, lässt sich der Betrieb auch als „gentechnikfrei“ zertifizieren. „Das ist wichtig für unsere landwirtschaftlichen Futtermischungen“, erklärt der Müller. Die Berchtesgadener-Land-Molkerei etwa bestehe darauf, dass alle Zulieferer gentechnikfrei produzieren. Für die Zukunft sei man also bestens gerüstet, freuen sich Veronika und Martin Sonner.
Eine historische Mühle mit Zukunft
Die Geschichte der Off-Mühle reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück. 1917 kaufte Veronikas Urgroßvater sie. Seitdem ist sie in Familienbesitz und wird in der vierten Generation betrieben. Dieser Tradition fühlen sich Veronika und Martin Sonner verpflichtet. Die beiden übernahmen den Betrieb vor 14 Jahren von Veronikas Vater, dem Müllermeister Karl Off.
Warum die Off-Mühle als einzige in der Region überleben konnte, verdeutlicht die Schautafel am Eingang des Mühlenladens. Auf ihr sind alle Lieferanten markiert. Die Off-Mühle arbeitet ausschließlich mit regionalen Erzeugern zusammen. Die Vermarktung biologischer Getreide liegt dem Paar besonders am Herzen. Veronika führt durch den kleinen Mühlenladen. Drei Viertel des Sortiments bestehen aus den hochwertigen Produkten der eigenen Mühle, neben Mehlen auch Brotbackmischungen und Müslis. Dinkel erfreut sich immer größerer Beliebtheit. „Da haben wir sogar Kunden aus Sylt und aus Südfrankreich, die sich regelmäßig Pakete schicken lassen.“ Sie hält inne, als plötzlich wildes Geheul einsetzt. Lachend werfen sich die beiden Kinder Carolin und Lukas nebenan auf einen Haufen Futtergetreide, dass die Körner nur so spritzen. Die fünfte Generation wächst heran und hat sichtlich genauso viel Spaß wie seinerzeit Mutter Veronika.