Region & Leute

Der Sternesammler vom Tegernsee: Interview mit Sternekoch Christian Jürgens

In Rottach-Egern am Seeufer liegt es, das Restaurant Überfahrt. Dort arbeitet Sternekoch Christian Jürgens mit seiner Mannschaft. 14-Stunden-Tage sind nicht selten – dafür erwartet den Gast eine Küche der Extraklasse mit regionalen Einflüssen.

Christian Jürgens gilt als einer der besten Köche in Deutschland: Im November 2013 erhielt er den dritten der begehrten Sterne des Guide Michelin. In seiner Küche im Restaurant Überfahrt in Rottach-Egern am Tegernsee kann es schon mal vorkommen, dass kleine Bäumchen als Deko für ein Gericht angeliefert werden, dass er sein Gericht „Schweinerei“ auf einer Rinde serviert und ein Stein zum Anrichten von Fisch dient. Christian Jürgens kocht mit Leidenschaft und Liebe zur Region – und weiß ganz genau, was er will. Wir haben an einem Mittwochmorgen bei ihm und seinem Team in der Küche vorbeigeschaut.

mei Dahoam: Herr Jürgens, was haben Sie gestern Abend gegessen?

Christian Jürgens: Ich? Gestern Abend? Chili con carne, glaub ich. Wobei, nein. Es war Wiener Schnitzel. Meine Lebensgefährtin und ich hatten Wiener Schnitzel.

Kochen dann Sie daheim mehr oder Ihre Lebensgefährtin?

Schon mehr ich. Aber das Kochen zu Hause ist nicht mit dem in meinem Geschäft zu vergleichen. Bei den Gerichten in der „Überfahrt“ muss es jedes Mal perfekt sein, und ich habe den Anspruch meiner Gäste zu erfüllen. Man kann es ungefähr mit einem Sportprofi bei Olympia und einem Hobbysportler vergleichen. Spaß macht beides unglaublich viel – aber man hat bei beiden Dingen einfach einen anderen Anspruch an sich selber. Im Geschäft bin ich komplett fokussiert auf das, was ich gemeinsam mit meinem Team mache. Daheim blende ich nicht alles aus, wenn ich am Herd stehe. Hier schon. Die Gäste haben Anspruch auf etwas Außergewöhnliches und nichts Alltägliches.

Was macht das Essen in der „Überfahrt“ nicht alltäglich?

Das fängt bei der Produktqualität an und geht über den Service bis hin zur Atmosphäre. Die wird durch den Service mitkreiert. Es ist eigentlich ein großes Ganzes, was wir hier bieten. Ich kann aber nicht von mir behaupten, dass mich die große Show begeistert. Es geht einfach um gutes Essen und Trinken – das darf durchaus aufgewertet werden durch das Drumherum. Aber das ist Beiwerk. Das Essen und die Getränke stehen im Fokus.

Was ist denn gutes Essen für Sie? Gehört da auch der Schweinebraten dazu?

Ein guter Schweinebraten ist natürlich auch gutes Essen. Oder auch ein gutes Rindergulasch. Es geht einfach darum, aus Lebensmitteln höchster Qualität mit Sorgfalt und Liebe etwas zu produzieren. Und das schmeckt dann auch. Das ist das Gleiche wie mit allem, was man mit Liebe tut. Es geht nicht um Chichi, sondern den Anspruch an sich selbst.

Sie kochen also nicht mit Chichi?

Wir kochen einfach in einer Sparte, die das bedient, was gemeinhin als High-End bezeichnet wird.

Und da gehört der Schweinebraten nicht dazu?

High-End kann auch ein sehr guter Schweinebraten sein. Warum denn nicht?

Kochen Sie denn noch Schweinebraten?

Das hab ich hier in der „Überfahrt“ noch nie gemacht, aber vielleicht probiere ich das einfach mal aus. Als ich noch in der Maximilianstraße gekocht habe, kam auch der Schweinebraten durchaus auf der Speisekarte vor. Unsere Küche steht einfach dafür, dass es von Christian Jürgens ist. Man muss die Handschrift des Kochs erkennen, wenn man bei uns isst. Das würde auch für den Schweinebraten gelten: Dass man erkennt, dass sich der Koch Gedanken gemacht hat, als er ihn zubereitet hat. Und dass der Gast merkt, dass der Koch etwas rausholen wollte aus dem Gericht. Es gibt in Bayern zig tolle Schweinebraten. Sich da abzusetzen mit etwas, ist die Herausforderung. Vielleicht hat sich an den Schweinebraten einfach noch nie einer rangetraut, weil es einfach zu schwierig ist.

Wie würden Sie denn die Handschrift von Christian Jürgens beschreiben?

Sie bietet maximalen Geschmack und präsentiert regionale und weltoffene Küche. Regional heißt aber nicht nur bei den Zutaten; das geht weit über die Zutaten hinaus. Irgendwo gibt es auch Grenzen. Nehmen wir das Wiener Schnitzel: Die Zitronen wachsen einfach hier nicht. Auch Kapern gibt’s hier nirgends. Ich will einfach die Region auf dem Teller stattfinden lassen und den Gästen zum Beispiel bei einem Fisch aus dem Atlantik zeigen: So könnte er direkt am Atlantik serviert werden.

Verwenden Sie aber für Ihre Gerichte bevorzugt Lebensmittel aus der Region?

Das geht nicht bei jedem Lebensmittel, man muss auf die Qualitätsstandards achten. Wenn das beste verfügbare Lebensmittel aus der Region die gleiche Qualität hat wie das, das nicht aus der Region stammt – dann hat das regionale immer Vorrang.

Wenn ein Sternekoch am Herd steht – wie oft geht da was schief?

Da zähle ich nicht mit. Wenn etwas schiefgegangen ist, dann geht es nicht ins Restaurant raus. Ich stehe aber nicht mit dem Zauberstab in der Hand am Herd und sage: „Achtung, jetzt kommt der Donnerschlag!“ Wir probieren einfach alles aus, und zwar so lange, bis es perfekt ist.

Was ist der Unterschied zwischen einem Koch ohne Sterne und einem mit? Haben Sie früher, als Sie noch keinen Stern hatten, anders gekocht?

Außer in meiner Lehrzeit habe ich immer in Betrieben mit Sternen gekocht. Als ich meine erste eigene Stelle als Küchenchef bekam, hatte ich auch sehr schnell meinen ersten Stern. Es steht mir auch nicht zu, andere Köche zu beurteilen. Aber gute Köche verbindet sicherlich die Liebe und der Spaß daran, sehr gute Lebensmittel auf den Tisch zu bringen, egal ob mit oder ohne Stern.

Wie groß ist Ihr Team?

Wir sind zehn bis zwölf Leute in der Küche und noch mal die gleiche Anzahl im Restaurant. Meine Köche und Kellner haben alle Mützen und Servietten aufgehängt, auf die sie ihr Lebensmotto geschrieben haben. Ich möchte, dass jeder Mitarbeiter weiß, wie der andere tickt und was ihn antreibt. Mein Team in Küche und Service ist genauso wichtig wie ich, die stehen nicht im Hintergrund. Kochen und Servieren ist Mannschaftssport. Und genauso gilt, dass ich meinem Verein, für den ich spiele, dankbar bin. Mein Chef, Hotelier Thomas H. Althoff hat mir die besten Voraussetzungen ermöglicht, dass ich hier so arbeiten und Erfolg haben kann. Und wenn ich meine hochqualifizierten Mitarbeiter nicht hätte, könnte ich das hier nie machen. Das hier ist keine Ein-Mann-Veranstaltung.

Die Mitarbeiter und Sie – wie lang stehen Sie täglich in der Küche?

Wir beginnen normalerweise so gegen 8 Uhr, 8:30 Uhr in der Früh. Wenn wir etwas Spezielles vorzubereiten haben, dann schon auch mal um 6 Uhr, 6:30 Uhr. Wenn wir früh fertig sind, kommen wir gegen 22 Uhr raus, aber meistens wird es 23 Uhr, 23:30 Uhr. Die Pause geht von 15 bis 17 Uhr. Wenn es nötig ist, opfern wir schon auch mal unsere Mittagspause. Wir haben einen 12- bis 14-Stunden-Tag. Gastronomie muss man leben.

Wie viele Tassen Kaffee brauchen Sie bei solch einem Pensum? Das muss ja eine ganz schöne Masse sein.

Kaffee? Trinke ich auch nicht mehr als jeder andere, zwei, drei Tassen am Tag. Höchstens. Koffein pusht mich nicht. Ich pushe mich selber. Meine Mitarbeiter sind da genauso, das ist wie bei Sportlern. Aber der Spaß darf auch nicht auf der Strecke bleiben. Spaß mit Zielorientierung: So arbeiten wir. Das ist der Unterschied zwischen Profis und Amateuren. Und ich würde nicht anders arbeiten wollen. Natürlich hätte ich auch gerne mal einen Acht-Stunden-Tag. Aber ich arbeite daran. Man optimiert immer – wenn man damit aufhört, ist eh Feierabend.

Von was lassen Sie sich bei Ihren Gerichten inspirieren?

Die Saison gibt uns die Waren vor, und dann überlegen wir, was wir daraus machen können. Außerdem finde ich manchmal hier beim Spazierengehen am See etwas, das ich ganz spannend finde. Oft inspiriert mich das auch zu neuen Gerichten. Auch von meinen Mitarbeitern kommt viel Kreativität. Ist das Ziel definiert, werden eine oder mehrere Proben gemacht, ob das Gericht funktioniert. Manchmal kommt auch etwas ganz anderes dabei heraus, als wir erwartet hätten – meine Aufgabe ist es, die Richtung zu weisen und diesen Prozess mit Rat und Tat zu begleiten. Meine Mitarbeiter sind alles hervorragende Fachleute, die mich dabei unterstützen. Ich wäre schlecht beraten, wenn ich auf ihren Input verzichten würde.

Was würden Sie als Sternekoch und Vater eines Sohnes sagen: Wie vermittelt man Kindern den Wert von gutem Essen?

Das ist ganz einfach: Man muss es als Eltern den Kindern vorleben und ihnen die Wertigkeit von gutem Essen vorstellen. Nicht exerzieren, sondern einfach gute Ernährung in den Tagesablauf integrieren. Es kommt auf die Motivation an, die muss man wecken können als Elternteil. Das kennt man ja von sich selber – hat man keine Motivation, macht man nichts freiwillig. Keiner will fremdbestimmt sein, das gilt auch für Kinder. Man sollte viel frisch kochen, aber darf auch mal Fast Food essen. Das Wichtige ist, dass man dann in gute Fast-Food-Läden geht und nicht in solche, die mit Convenience-Produkten arbeiten. In München gibt es zum Beispiel super Hamburger mit tollem Fleisch in kleinen speziellen Läden. Man muss Kindern einfach zeigen, was sie auch selber machen können. Das heißt: Ihnen auch mal beibringen, wie man Nudeln kocht.

Und was soll man machen, wenn die Kinder kein Obst oder Gemüse mögen?

Das muss jeder selber rausfinden, wie er das in sein Kind reinkriegt. Da gibt es kein Rezept dafür. Ich habe zum Beispiel früher nie Tomaten gegessen. Mein erster Salat war ein Kopfsalat. Warum ich den damals plötzlich gegessen habe – keine Ahnung. Aber irgendein Reiz war da. Was auf gar keinen Fall funktioniert, ist der Satz: „Du isst das jetzt auf, erst dann darfst Du aufstehen!“

Momentan ist eine heiße Debatte zum Fleischkonsum entbrannt – viele werden Vegetarier oder gar Veganer. Wie beurteilen Sie diesen Trend?

Wir essen viel zu viel Fleisch. Die Ausgewogenheit fehlt. Ich komme ja aus einer Metzgersfamilie, und sogar bei uns kam Fleisch nur am Wochenende auf den Tisch. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, die hatten einen eigenen Garten und haben dort viel Gemüse angebaut und dann auch damit gekocht. Jetzt gilt ja schon fast die Devise „Fleisch, Fleisch, Fleisch“.

Was denken Sie, warum ist das so?

Weil wahrscheinlich die Fleisch-Industrie geschickter war als die Gemüse-Industrie. Aber für die Entscheidung pro oder contra Fleisch ist jeder selber verantwortlich.

Sie haben spezielles Geschirr in Ihrem Restaurant – suchen Sie das auch selbst aus?

Wir haben die Keramik selbst entwickelt, gemeinsam mit einer Manufaktur am Tegernsee. Auch die Teller suche ich aus.

Werden Sie auf der Straße als Sternekoch erkannt?

Das kommt schon mal vor, dass mich jemand erkennt. Das ist oft sehr, sehr nett. Diese Anerkennung fühlt sich doch sehr gut an.

Wie lange im Voraus muss man bei Ihnen reservieren, damit man einen Platz in der „Überfahrt“ bekommt?

Wir bemühen uns immer, dass unsere Gäste einen Tisch bekommen. Jedoch gibt es Tage, wie zum Beispiel am Wochenende, an denen wir ausgebucht sein könnten. Wir sind ein sehr gut besuchtes Restaurant, und ein Besuch empfiehlt sich nicht ohne Reservierung. Man sollte immer anrufen und die Verfügbarkeit klären. Das sollte ungefähr drei bis sechs Wochen vor dem Wunschtermin passieren. Aber es kann natürlich auch sein, dass jemand abspringt, dann ist viel kurzfristiger ein Tisch frei. Und wir sind auch nicht so abgehoben, dass nicht jeder zu uns kommen kann oder man ewig warten muss. Wir sind immer noch ein Gasthaus für Gäste. Und denen wollen wir es ermöglichen, dass sie uns besuchen.

Sie sind ja in Westfalen geboren und aufgewachsen, leben aber schon seit 25 Jahren in Bayern. Was gefällt Ihnen an dieser Region?

Es gibt einfach keinen anderen Platz, an dem ich momentan lieber leben möchte. Ich habe mich hier am See tatsächlich selbst gefunden. Und mir sagt auch die Mentalität der Menschen in ganz Bayern zu. Ich habe viele Facetten der Region gesehen, es gibt überall schöne Seiten. Aber ich stehe auch dazu, wo ich herkomme, ich verleugne das nicht. Mir sagen aber hier in Bayern die Kultur und das Umfeld zu. Wenn das anders wäre, wäre ich schon lang nicht mehr hier. Es macht mir viel Freude, hier zu leben und zu arbeiten.

Was essen Sie am liebsten?

Alles, was wirklich gut und mit Sorgfalt gemacht ist, esse ich gern. Gute Fleischpflanzerl – die kriegt man nicht überall. Wenn etwas gut gemacht ist, könnte ich das auch sieben Tage lang, drei Mal am Tag essen. Ich probiere ja alles, was ins Restaurant rausgeht. Das ist Arbeit, da ist kein Lustgewinn dabei. Ich muss probieren, schmecken, muss herausfinden, ob die Säure stimmt, ob zu viel davon im Gericht ist oder zu wenig. Das ist Arbeit. Das Essen zu Hause ist Urlaub.

Wie entspannen Sie sich?

Ich entspanne mit viel Sport, mit Laufen, Radfahren, Skifahren oder auch einfach mal einer Stunde am See. Aber Entspannen ist schwierig in meinem Job. Das gebe ich zu.

Über den Autor

Eva Hirsch

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