Wenn die Sage recht hat, haben wir es ausgerechnet einer waidwunden Hirschkuh auf der Suche nach Heilung zu verdanken, dass man heute am Fuße des Hohlensteins in einem Talwinkel hinter Kreuth unter anderem hervorragende Wildgerichte kredenzt. Das verwundete Tier sei vor Jahrhunderten seinem Häscher durchs Unterholz der Weißachauen davongelaufen und hätte sich gezielt im armdicken Strahl einer Quelle Linderung verschafft. Der verdutzte Jäger merkte sich die Stelle und erzählte von seinem wundersamen Erlebnis. Die Kunde vom heilsamen Wasser machte die Runde, und 1511 ließ ein Abt vom Tegernsee ein Badhaus errichten – das Wildbad zu Kreuth nahm seinen Anfang.
Vom Badhaus zum Gasthaus
„Diese dicken Mauern sind aus dem Jahr 1696. Und oben, die Kassetten an der Decke kennzeichnen die kleinen Kammern im ersten Stock, wo jeweils eine Kupferwanne stand.“ Das Mieder kachelofengrün, die Bluse blütenweiß und der Rock burgunderrot komplettiert die Wirtin Johanna Winkelmann ihre Gaststube mit der exakten Dosis stilvollen Brauchtums. „So ein altehrwürdiges Haus mit seinen Geschichten ist ein Geschenk“, betont sie mit einer Spur aufrichtiger Ehrfurcht in der Stimme. Dass alles sitzt, nicht nur die Gäste, sondern jedes Detail von den handbemalten Lampenschirmen über die glänzenden Kacheln bis hin zum Faltenwurf der Tischdecken, unterliegt ihrem gestrengen Blick und nimmermüden Händen. Sie kennt jeden Winkel, weiß allerhand Geschichten, und obwohl die gelernte Buchfachhändlerin es sich früher nie hätte vorstellen können, eine Gastwirtschaft zu führen, erlebt man selten eine Wirtin ihrer Fasson.
Früher, als die Menschen noch kamen, um sich in heilende Bäder zu senken, gelangte so manch rühriger Badmeister zu Ruhm und Ehre. Heute, da die Quelle zwar noch unterm Haus hindurch sprudelt und sich allenthalben eine unaufdringliche Schwefelnote in die Bergluft mischt, führt das Ehepaar Winkelmann die Tradition der Labung seiner Besucher auf einer anderen Ebene fort. Heute tunkt man nicht mehr schmerzende Glieder ins Wannenbad, sondern zartes Wild in samtige Soßen, benetzt nicht mehr rheumatische Gelenke mit Schwefelsud, sondern die Kehle mit edlen Tropfen.
Während die Wirtin die Gasträume beseelt und dirigiert, füllt Axel Winkelmann, der erfahrene, vielfach prämierte Koch, heimlich, still und leise, aber mit präziser Leidenschaft die Teller mit kulinarischen Finessen. Der drahtige Mann mit dem gestutzten Oberlippenbart, dem geraden Blick und dem schallenden Lachen beweist seinen Gästen mit jedem seiner Gerichte, wie vorzüglich und fein die bayerische Küche jenseits von speckigem Gebrät und zäher Dunkelbiersoße sein kann. Er öffnet den Mund und ergießt fröhlichen Bremer Schnack ins tiefste Oberbayern.
In Delmenhorst habe er gelernt, er liebe seit jeher die Berge, sei als Koch viel gereist und habe in Bayern schließlich Frau und Heimat gefunden. „Die urbayerische ist eine ehrliche Küche. Man kocht mit dem, was da ist. An der Küste wird ja alles angeschwemmt. Hier ist nichts verstrickt. Vielleicht kommt mal ein Gröstl-Einschlag aus Tirol, aber sonst orientiert man sich an dem, was hier wächst und gedeiht.“ Einfach und direkt, unkapriziös und ohne Schnickschnack, alten Rezepten folgend – eigentlich ganz simpel würde er kochen. Sagt‘s und überrascht seine Gäste mit dem Gegenteil von schlichten Gerichten.
Fisch, fangfrisch
Zur Vorspeise gibt es zweierlei vom Saibling: ein leicht zitroniges Tatar mit feiner Schalotte und Dill-Butternote sowie ein geräuchertes, zart schmelzendes Filet. Blutampfer, hauchdünne Radieschenhobel und Salatherzenblätter begleiten diese Vorspeise, die sogar fischmüde Gaumen erstaunlich neugierig und heißhungrig werden lässt. Kein unangenehmer fischelnder Beigeschmack drängt sich auf, die Konsistenz des Filets ist fest und saftig und hinterlässt ein angenehmes Mundgefühl. Kein Wunder, die Saiblinge sind auch so frisch wie nur selten möglich, kommen sie doch gleich aus der nur wenige Meter entfernten herzoglichen Fischzucht, schwimmen und gedeihen im Wasser der benachbarten Quelle. Selbiges gilt für die silbrigen Forellen. „Jeder Fisch wird frisch gefangen, quasi auf Bestellung“, bestätigt Winkelmann.
Das Geheimnis von Ei und Rahm
Er ist ein Koch, der sich eher für das Warum hinter den Prozessen in der Küche interessiert, als sich mit komplex raffinierten Zubereitungsarten zu verkünsteln – immer mit dem Ziel, jede der Zutaten im rechten Maß zur Geltung kommen zu lassen. „Schauen Sie, wenn man weiß, was mit einem Ei im Detail möglich ist, dann kann man ganz anders kochen. Wenn man versteht, wie und warum man mit Eiern lockern oder binden kann. Dass man das Lecithin braucht, um die Mayonnaise zu emulgieren, und dass man mit ganz frischen Eiern beim besten Willen keinen Eischnee aufschlagen kann.“ Spricht Axel Winkelmann über die Vorgänge in seiner Küche, kommt er nicht ins Dozieren, sondern ins Schwärmen. Er macht kein Geheimnis aus seinem Wissen, sondern steckt mit seiner Neugier und Leidenschaft an. „Ich habe ein altes Rezept für meinen Kaiserschmarrn, ein ganz einfaches. Milch, Mehl, Eier. Da wird nicht ein Ei getrennt oder aufgeschlagen. Oder meinen Sie, das hätte man früher auf der Alm gemacht? Da hat man einfach mehr Eier genommen. Mein Kaiserschmarrn ist standfest, kommt vier Zentimeter aus der Pfanne – ganz ohne Eischnee. Das ganze Geheimnis liegt in den Eiern. An der Menge der Eier.“ Sein Kartoffelpüree rühre er mit der Hand, weil die Maschine es verkleistern ließe. „Du musst schon auch dazusagen, dass wir es mit Rahm kochen und nicht mit Milch“, ergänzt seine Frau Wirtin fast beiläufig. Die Mägen rundherum beginnen zu knurren.
Auf den Punkt komponiert
Und dann das Hauptgericht: Cordon bleu vom Hirsch, das Schnitzelfleisch aus der Oberschale, auf sahnigem Kartoffel-Kren-Ragout mit Rosmarin. Am Anschnitt lugen würziger Bergkäse von der Naturkäserei TegernseerLand und großzügige Blätter Schinkenkarree hervor. Das Fleisch ist fest, zergeht aber zart im Mund; die Panade ist angenehm dezent. Kein Wildgeschmack dominiert das Gericht, das kräftige Fleisch lässt viel erahnen, aber keinen brunftigen Hirschen. Dazu die Kartoffelwürfel, die mit dem Meerrettich und dem Rahm schmackhaft in Beziehung treten und der galanten Rosmarinnote angemessen Raum geben. Die Teller sind nicht überdekoriert, alles was man darauf findet, ist eindeutig optisch und geschmacklich identifizierbar. Keine Spur von überkandidelter Aufschneiderei, lediglich das, was es ist: auf den Punkt komponierte, hervorragende Gerichte.
Obwohl man beim besten Willen nichts, aber auch gar nichts auf dem Teller zurücklassen kann, ohne eine Sünde zu begehen, und obwohl man in der Winkelmannschen Küche nicht vor Ei und Rahm zurückschreckt, stellt sich kein Gefühl von Übersättigung ein. Trotzdem gönnt man sich den angebotenen Badschnaps. Zusammen mit seiner Tochter komponierte Axel Winkelmann in der Destille Fischerweber einen bernsteinfarben im Glas rollenden Edeltropfen, der mehr kann als ein einfacher Obstler. Der Verschnitt aus einem Apfel-Birnen-Schnaps aus dem Holzfass und einem fruchtigen Aprikosenbrand wärmt vorneweg wie ein Obstgeist und schickt im Nachgang aber dann das versöhnliche Fruchtaroma der Marille durch Rachenraum und Nase.
Danach kann man nur noch ergeben lächeln, wenn einem die Wirtin schließlich einen selbst gebackenen Käsekuchen (ohne Boden …) serviert. Man dankt der Hirschkuh von damals. Und fragt nach einer Reservierung für bald.