Tradition & Brauchtum

Das Geheimnis der liegenden Acht: Goaßlschnalzen

Jedes Jahr bei der Leonhardifahrt holen um die 20 Männer in Bad Tölz die Goaßln raus – und es wird geschnalzt, bis die ganze Marktstraße hallt. Franz und Thomas Schwaighofer sowie Michael Kramer sind seit Jahren Bewahrer des alten Brauchs.

Eigentlich gehört zur Ausrüstung eines Goaßlschnalzers nichts als die Tracht und der eigens angefertigte Fichtenstecken mit dazugehöriger Schnur. Bei Michael Kramer, 42, war vor rund zehn Jahren aber auch der Motorradhelm mit von der Partie. „Den hab ich aufgesetzt, als ich zu üben angefangen habe“, erinnert er sich. Wer als Anfänger mit dem Brauch beginnt, haut sich nämlich die Schnur um die Ohren – und wenn er Pech hat auch auf die Ohren. Das schnalzt dann im wahrsten Sinne des Wortes g’scheid; und tut auch ziemlich weh. „Ein bisschen Schmerzbereitschaft braucht jeder Goaßler“, sagt Kramer.

Um Goaßl-Körperkontakt zu vermeiden, braucht es also viel Training und die richtige Technik. Die Tölzer Goaßlschnalzer haben sie – Franz Schwaighofer schon seit Jahrzehnten: „Es geht einfach darum, eine schön liegende Acht in die Luft zu zeichnen.“ Wer das schafft, bei dem knallt’s irgendwann, genauso wie an diesem Samstag beim Goaßln hoch über Tölz: Es hallt zwischen den Bäumen, es knallt minutenlang in lauten Folgen, abgefeuert von Franz Schwaighofer, Thomas Schwaighofer und Michael Kramer. Die Schnüre drehen sich um die Köpfe und Körper der drei Männer in weiten Achtern. Gegenseitig berühren sie sich nicht. Dabei läuft eine Folge, so lange sie eben läuft – wenn der Takt nicht mehr stimmt, hören die Männer auf. Für Untrainierte ist das Goaßln nichts – Ausdauer und Kraft sind Voraussetzung.

Der klassische bayerische Schnalzer ist nichts anderes als der Knall, den ein Düsenflugzeug erzeugt, wenn es die Schallmauer durchbricht. Durch die schnelle Gegenbewegung beim Achterdrehen gibt es eine enorme Beschleunigung der Schnur, und dann knallt es irgendwann. Das kann man bei der Leonhardifahrt zigfach hören, ausnahmslos Männer halten diesen Brauch aufrecht. Dabei gibt es die „Oberen“ und die „Unteren“ in Tölz, zwei Gruppen, die sich aufeinander abgestimmt haben und jeweils die „Dreier“- oder „Vierer“- Klangfolgen goaßln. Denn wahllos ist das alles nicht, was in der Marktstraße am 6. November schallt. „Der Erste fängt an, und die anderen müssen dann in den jeweiligen Sekundenbruchteil einstimmen. Das ist wie in einem Orchester und funktioniert nur mit Sichtkontakt“, sagt Franz Schwaighofer, 65, der seit Ende der 60er-Jahre dabei ist und das Goaßlschnalzen von seinem Vater gelernt hat. Der war schon in den 20er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts ein begeisterter Goaßler, damals noch mit kürzerem Strick und etwas anderer Technik. Mittlerweile hat sich die Ausrüstung weiterentwickelt, die Grundzüge sind aber gleich geblieben.

Da ist zum einen der knapp hüfthohe Stecken aus Fichtenholz – er hat um die fünf Zentimeter Durchmesser und muss langsam gewachsen sein, sagen Kramer und die beiden Schwaighofers. Wobei auch bei diesem Thema nicht immer Einigkeit herrscht: Die einen bevorzugen lieber einen Stecken, der leicht mitschwingt beim Goaßln, die anderen einen, der die Spannung stärker hält.

Die Schnur – sie hat sich aus den alten Zugstricken von Ochsen und Pferden entwickelt – besteht aus Hanffasern. Sie werden dreifach oder vierfach aufgedreht, die Schnur wird zum Schluss hin immer dünner. Alles ist Handarbeit, vor allem der „Schmitz“ ganz am Ende der Schnur, der mit weiß- blauem Faden fixiert ist. „Das ist das Verschleißteil und muss immer wieder ausgetauscht werden“, erklärt Franz Schwaighofer. Der Schmitz franst nämlich beim Goaßln stark aus, was er aber auch soll, erzeugt er doch den wichtigen Knall. Am Schmitz erkennt man übrigens die gute Technik: Wenn er dreckig ist, muss noch ein bisschen geübt werden – denn dann hat der Goaßler die Schnur zu oft am Boden entlanggezogen und den Achter in der Luft nicht geschafft. Der Schmitz verbindet bei einigen Tölzer Goaßlern die Tradition mit der Moderne: Er besteht mittlerweile bei manchen Goaßln aus einer Nylonschnur, die auch Fallschirmspringer nutzen, und wird ebenfalls mit der Technik aus diesem Sport ohne Knoten angenäht. So lässt sich noch viel besser schnalzln, sagt Franz Schwaighofer, denn das Vernähen ohne Knoten bringe noch bessere Ergebnisse, weil so die Flugbahn der Schnur optimiert wird.

Entstanden ist das Goaßlschnalzen aus den Warnungen der Fuhrmänner: Wenn sie um eine unübersichtliche Kurve bogen, schnalzten sie mit ihrer Peitsche, um entgegenkommende Wagen zu informieren. Auch gehört das laute Knallen zu den Vertreibungsbräuchen – böse Geister haben bei dem Lärm keine Chance.

Zwei bis drei Goaßln haben alle Schnalzer in Reserve daheim; manchmal hält eine der Belastung nicht stand und geht kaputt. Thomas Schwaighofer, 35, hat mehr: Seit er 17 ist, goaßlt er – und er will das alte Brauchtum auf alle Fälle weitergeben. In seinem Keller lagert deshalb ein beachtlicher Goaßl-Vorrat.

Zehn stammen noch von seinem Vater, um die 20 Stück hat er sich vorsorglich gekauft. Das alte Handwerk der Seilerei gibt es nämlich nicht mehr in vielen Städten. In Bad Tölz ist der alte Kirner-Seiler mittlerweile verstorben; es gibt zwar noch die alten Maschinen, aber gerade keinen, der die Seile drehen würde. Dafür müssen die Goaßler mittlerweile nach Garmisch-Partenkirchen oder Traunstein fahren, wo noch ein Seiler am Ort wohnt.

Vor Publikum treten die Goaßler traditionell eigentlich nur an Leonhardi in Bad Tölz auf. Ausnahmen machen sie nur ab und zu: So zum Beispiel bei der Expo in Hannover 2000 oder in Kairo. Da stand Michael Kramer einmal mit Freunden in Tracht und goaßelte ein paar Runden – zur Verwunderung aller Ägypter und auch der Polizei, die prompt wegen der Goaßlschüsse anrückte. „Die haben dann aber nur geschaut und schnell gemerkt: Das sind einfach welche von einem anderen Planeten“, erinnert sich Kramer.

Einen Verein haben die Goaßlschnalzer nicht gegründet, sie rufen sich einfach „z’samm“, wenn es Ende August, Anfang September wieder so weit ist, um für Leonhardi zu trainieren. Ein großes Tamtam machen sie nicht darum. Da leben sie ganz nach dem Motto, das manch andere Tölzer auch haben: Das beste Brauchtum ist das, über das man nicht großartig spricht – sondern das man einfach macht.

Bildnachweis: Hias Krinner, Harry Kübler

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Eva Hirsch

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